Caroline Haeske in schwarz weiß, guckt nachdenktlich zur Seite.

Hey Du. Es tut mir leid, dass deine Mutter einen Schlaganfall hatte.

Und es tut mir auch leid, dass sie nun im Krankenhaus sein muss, anstatt Zuhause.
Ich hab sie extra in den Rollstuhl gesetzt, weil ich wusste, dass du kommst. Ich dachte, ich mache euch damit vielleicht beiden eine Freude.
Aber ich möchte dich um etwas bitten:
Wenn deine Mutter nach einer Stunde müde ist und ins Bett möchte, sei bitte nicht wütend, wenn ich nicht sofort da sein kann.
Ich verstehe, dass es für dich wichtig ist, dass es deiner Mutter gut geht.
Bitte verstehe aber auch, dass ich nicht überall gleichzeitig sein kann. Für dich haben andere Dinge Priorität als für mich.
Das heißt nicht, dass das Wohlbefinden deiner Mutter nicht wichtig für mich ist. Vielmehr heißt das, dass ich die dringendsten Dinge zuerst abarbeiten muss. Deine Mutter sitzt etwas schief, aber stabil in ihrem Rollstuhl. Du wartest schon 10 Minuten auf mich. Du magst denken, meine Tätigkeit besteht nur aus Pflege, wie du sie als Laie für dich definierst. Aber bitte versteh, dass mein Job so viel mehr beinhaltet, als das, was du siehst und denkst. Du siehst nicht, dass meine Patientin in Zimmer 1 einen Blutzucker von 32 hat und schon ganz blass ist… Du siehst nicht, dass ich gerade für deine Mutter ihr Antibiotikum zubereiten muss, damit sie es pünktlich bekommt. Du siehst auch nicht, dass meine Patientin in Zimmer 2 gerade im Sterben liegt und pünktlich in 5 Minuten ihr Morphium braucht. Du weißt gar nicht, wie lange es dauert, das im BTM-Buch zu dokumentieren und aufzuziehen. Dass ich nebenbei kurz ein kritisches EKG meines Patienten in Zimmer 3 im Auge behalten muss. Das mein Patient in Zimmer 4 gerade dabei ist, sich seine Infusion zu ziehen und sich mit seinem Stuhlgang beschmiert hat. Der Knall in Zimmer 5 war übrigens nicht zu überhören.
Ich muss schnell schauen, wer da aus dem Bett gefallen ist und die Platzwunde am Kopf versorgen. Zimmer 6 bekommt keine Luft, läuft blau an und muss abgesaugt werden. Das klingelnde Telefon während ich die Thrombosespritzen für sämtliche Patienten aufziehe bekommst du gar nicht mit. Ebenso wenig bekommst du es mit, dass wir gerade am anderen Ende des Flures einen Epileptiker haben, nach dem ich dringend nochmal schauen muss bevor ich mich komplett deiner Mutter widmen kann.
Als ich all diese Baustellen der Dringlichkeit nach abgearbeitet habe, verschwinde ich nur kurz auf die Toilette da ich durch den ganzen Stress vergessen habe, dass ich schon vor einer Stunde bereits mal musste. Ich bin erleichtert, dass alle stabil sind und noch leben.
Wenn ich dann wieder auf dem Flur in deiner Sichtweite bin, bitte ich dich, mich nicht so strafend anzuschauen.
Du siehst mich einen Schluck Kaffee trinken – du siehst aber nicht, dass der Kaffee mehrere Stunden alt ist und bereits eiskalt. Du riechst nur, dass ich gerade noch Eine rauchen war. Bevor du jetzt wütend wirst, denk bitte darüber nach, dass auch ich eine gesetzlich verankerte Pause habe. Ich nehme diese Pause nicht am Stück.
Ich rauche ab und zu mal eine. Das ist meine Pause. Ich gebe dank der Überstunden schon mein Privatleben auf. Mein Laster habe ich behalten. Ich bin nur ein Mensch. Und in ca. 9 Stunden ist meine Zigarette nahezu die einzige Auszeit, die ich mir nehmen kann. Als ich nun nach 45 Minuten das Zimmer deiner Mutter betrete, geht es mir nicht gut.
Ich mache diesen Job, weil ich ihn liebe. Nichts anderes hält mich hier. Ich bin ein Mensch mit Herz und natürlich tut es mir leid, dass ihr so lange auf mich warten musstet. Ich tue mein Bestes. Du siehst es vielleicht nicht immer – aber es ist so.
Diesen Vertrauensvorschuss musst du mir geben. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich habe diesen Beruf gelernt. Nie würdest du die Arbeit deines Steuerberaters oder deines Anwalts in Frage stellen.
Du machst dir Sorgen – das verstehe ich. Aber du siehst als Laie nur die Spitze des Eisberges und bitte mach dir das bewusst.
Wenn du jetzt anfängst, mir noch Vorwürfe zu machen, kann ich dir versprechen, dass ich dem Burnout dadurch ein Stück näher komme. Das ich die Freude an meinem Beruf ein Stückchen mehr verliere und der Personalschlüssel mich ein bisschen mehr resignieren lässt. Wer soll sich dann um deine Mutter kümmern? Wenn ich auch noch kündige, setzt sie irgendwann niemand mehr in den Rollstuhl.
Mein Vorschlag an dich wäre es, in der Zeit, wo du auf mich wartest deine Mutter schon mal ans Waschbecken zu fahren. Hilf ihr doch beim Zähne putzen. Hilf ihr doch, ihr Nachthemd anzuziehen. Putz‘ doch mal ihre Brille. Ich würde mich überschwänglich bei dir bedanken. Diese unglaublich entlastende Geste wäre für mich und deine Mutter eine riesige Hilfe. Du brichst dir keinen Zacken aus der Krone.
Lass uns doch an einem Strang ziehen.
Und tu‘ mir bitte noch einen Gefallen: Wenn du siehst, dass das Kopfkissen deiner Mutter einen Fleck hat, benutze NICHT die Klingel. Ich werde sowieso kommen, wenn ich so weit bin. Sag es mir dann. Die Klingel ist eine „Notfallklingel“ und in den Schränken ist meist für alle zugänglich frische Bettwäsche.
Du brauchst dir keine Sorgen machen, dass du mir damit meine gesamte Arbeit abnimmst und du brauchst dir auch keine Gedanken machen, ob ich dann wohl zu Unrecht noch bezahlt werde.
Vergiss bitte einfach nie: Du siehst nur die Spitze meines Eisberges.
Langweilig wird mir NIE.
Ich mache das alles gerne aber ich brauche dein Vertrauen.
Danke.
Schwester Caro
(Gesundheits- und Krankenpflegerin)

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